Ganz Rietenau ist beim Kulturfeuer einen Abend lang Bühne

Bereits zum vierten Mal hat der Rietenauer Heimat- und Kulturverein am Sonntag zu seinem Kulturfeuer eingeladen. Das Motto des Abends lautete „Unsterbliches, Vergessenes und schräge Vögel“. Auf dem Programm standen Musik, Literatur, Theater, Fotografie und Erzählkunst.

Das Theaterstück „Schwäbischer Ikarus“ mit Rolf Butsch und Bärbel Hesser ist an dem Abend besonders gefragt. Fotos: Dietmar van der Linden

© Dietmar van der Linden

Das Theaterstück „Schwäbischer Ikarus“ mit Rolf Butsch und Bärbel Hesser ist an dem Abend besonders gefragt. Fotos: Dietmar van der Linden

Von Melanie Maier

Aspach. Fünf Kulturveranstaltungen, vier Startzeiten: So funktioniert das Kulturfeuer in Aspachs Teilort Rietenau. Auf dem Dorfplatz sammeln sich am Sonntagnachmittag um 16.45 Uhr die ersten Teilnehmerinnen und Teilnehmer, um ihre pinken Einlassbändchen abzuholen und noch etwas zu trinken, bevor das Programm beginnt. Die nunmehr vierte Auflage des vom Rietenauer Heimat- und Kulturverein organisierten Events steht dieses Jahr unter dem Motto „Unsterbliches, Vergessenes und schräge Vögel“. Zu erleben gibt es ein schwäbisches Theaterstück, eine Lesung, eine Bildershow, ein Konzert und einen Geschichtenvortrag.

Los geht es um 18 Uhr. Doch wohin als Erstes? Die Reihenfolge, in der sie sich die verschiedenen Programmpunkte ansehen, legen die Besucherinnen und Besucher selbst fest. Sehr viel Andrang ist an diesem Abend vor dem Gebäude, in dem das Zweipersonenstück „Schwäbischer Ikarus“ des Theaters Rietenau aufgeführt wird – mehrfach sind so viele Interessierte da, dass nicht alle eingelassen werden können.

Das Theaterstück steckt voller Wortwitz

Kaum sitzen alle, geht das Licht aus. Rolf Butsch und Bärbel Hesser betreten als Eheleute Jakob und Marie die Bühne. In breitem Schwäbisch erzählt er, der Tüftler, von den großen Erfindungen, die das Schwabenland hervorgebracht hat: Streichhölzer, „Butzmaschehna mit Hochdruck – ond von de Audos will i gar it erscht ahfanga.“ In die Reihe dieser Erfindungen soll seine eigene sich einfinden und die Schwaben zum Schweben bringen. Denn: „In jedem Schwob schlummert der Drang – des hon i jetzt abr schee g’sagt – ebbes zu erfenda, das die Welt verändra kah.“ Das Stück, das aus der Feder von Autorin Lea Butsch stammt, steckt voller Charme und Wortwitz („wie Felix aus der Asche“). Zwei schräge Vögel erzählen darin von Unsterblichem (dem Ikarus-Mythos), spielen mit Klischees über die und von den Schwaben. Das kommt beim Publikum extrem gut an.

Lea Butsch vom Rietenauer Heimat- und Kulturverein eröffnet das Kulturfeuer am Sonntagnachmittag auf dem Dorfplatz.

© Dietmar van der Linden

Lea Butsch vom Rietenauer Heimat- und Kulturverein eröffnet das Kulturfeuer am Sonntagnachmittag auf dem Dorfplatz.

Das Stück sei nicht nur lustig, sondern auch tiefgründig, lobt zum Beispiel Gunhild Vöhringer aus Aspach. Sie hält das Kulturfeuer insgesamt für eine sehr gelungene Veranstaltung. „Es ist eine tolle Mischung“, sagt sie. „Schön ist auch, dass man sich die Reihenfolge aussuchen kann. Das habe ich so noch nie erlebt.“ Auch ihre Begleiterin Martina Ehmer-Eckstein findet es „super, was die Organisatoren hier, in so einem kleinen Ort, auf die Beine gestellt haben.“ Diese Meinung teilen Sarah Egeler (35) und Alexis Bouillon (30). Die beiden sind mit dem wohl jüngsten Veranstaltungsbesucher vor Ort: ihrem sechs Wochen alten Sohn Leon. „Das Programm ist toll“, sagt Alexis Bouillon. Der Rietenauer ist zum zweiten Mal beim Kulturfeuer dabei. „Es gibt immer ein paar Überraschungen“, sagt er.

Humor als Mittel der Distanzierung

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Wenige Schritte von der Theaterbühne entfernt stehen Lea Butsch und die Musikerin Sonja Michler in den Startlöchern. Im Einklang mit dem Motto der Veranstaltung erinnert Lea Butsch mit dem Gedicht „Das Glück“ eingangs an die mittlerweile weithin vergessene Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger, die im damals rumänischen Czernowitz das Licht der Welt erblickte und als deutschsprachige Jüdin 1942 im Alter von gerade einmal 18 Jahren in einem Zwangsarbeitslager der SS starb. Begleitet wird sie dabei von den ergreifenden Akkordeonklängen und dem Gesang von Sonja Michler, welche den Raum in eine andächtige Atmosphäre tauchen. Im Kontrast dazu steht eine Reihe von Witzen, die Lea Butsch dann zum Besten gibt – der Humor als Ausweg und Mittel der Distanzierung vom Leid hat in der jüdischen Gesellschaft eine große Tradition. Damit bei alledem die schrägen Vögel nicht zu kurz kommen, schlagen die Künstlerinnen nun einen Bogen „zum schrägen Vogel schlechthin, Rio Reiser“, wie Lea Butsch feststellt.

Noch ein Stück weiter, in der Alten Schmiede in der Thaddäus-Troll-Straße, liest Thaddäus-Troll-Preisträger und BKZ-Redakteur Kai Wieland aus seinem Erstlingswerk „Amerika“. Der 2018 erschienene Roman hätte nach dem Willen des Autors eigentlich „Ameehrikah“ heißen sollen – schwäbisch gesprochen mit langem E und A –, doch aus verkaufstaktischen Gründen sei der Manuskripttitel verworfen worden, teilt Kai Wieland mit. Sei’s drum – in dem Eingangskapitel, das er an diesem Abend vorträgt, erwacht die schwäbische Provinz auch so vor dem inneren Auge zum Leben. In dem fiktiven Dorf Rillingsbach – zwei Straßen, 20 Häuser – kommen die paar noch verbliebenen Alten im Schippen, der Kneipe von Boiznerin Martha, zusammen, um zu trinken und zu schweigen. Bis eines Tages ein Chronist erscheint. Schräge Vögel und Vergessenes – „Amerika“ hat beides.

Im Gemeindehaus zeigt Fotograf Dietmar van der Linden Eindrücke von der Bodypainting-Weltmeisterschaft 2009.

© Dietmar van der Linden

Im Gemeindehaus zeigt Fotograf Dietmar van der Linden Eindrücke von der Bodypainting-Weltmeisterschaft 2009.

Auch in dem Bildervortrag von Fotograf Dietmar van der Linden sind schräge Vögel enthalten – und zwar nicht zu wenige. Im Gemeindehaus projiziert er Fotos der Bodypainting-Weltmeisterschaft 2009 in Seeboden am Millstätter See (Österreich) auf eine Leinwand. Werwölfe, Dämonen, aber auch mit Blumen, Vögeln und Mustern verzierte Körper sind zu sehen. Die Models seien in verschiedenen Kategorien (zum Beispiel Airbrush, UV oder Spezialeffekte) angetreten, berichtet der Fotograf. „Von morgens um 10 Uhr bis zum Nachmittag wurden sie geschminkt“, erzählt Dietmar van der Linden. Der Rietenauer ist schon zum dritten Mal beim Kulturfeuer dabei, für ihn ist es ein Heimspiel.

Im Jugendzentrum spielen nicht zuletzt die Nodding Heads. Mit Akustikgitarre, Bassgitarre, Schlagzeug, Schellenring und drei Stimmen sorgt die Band für Stimmung. „Die sind super“, sind sich Ricarda Brießmann, Rainer Noll, Margit und Joachim Gassmann aus Großaspach einig. Die Band verwebt an diesem Abend vergessene und unsterbliche Songs zu einem Soundteppich – darunter „What I Am“ von Edie Brickell oder „The Chain“ von Fleetwood Mac. Eine Zugabe gibt’s für die Zuschauerinnen und Zuschauer der vierten Runde – „aber nur, weil ihr die Letzten seid“.

Der Abschluss findet wenig später aber auf dem Dorfplatz statt. Dort, wo der Abend begonnen hat, wirft nun ein Mann ein rot leuchtendes Diabolo zu französischer Musik in die Höhe. Auch so ein schräger Vogel.

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Erstellt:
30. Januar 2024, 06:00 Uhr

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