Aus für Backnanger Notfallpraxis schlägt hohe Wellen

Die Entscheidung der Kassenärztlichen Vereinigung, die Notfallpraxen in Backnang und Schorndorf zu schließen, sorgt nicht nur bei den Kommunen für einen Aufschrei. Auch in der Bevölkerung regt sich Widerstand in Form einer Online-Petition.

Noch empfängt die Backnanger Notfallpraxis am frühen Abend Patientinnen und Patienten, aber das soll sich nach der Erweiterung des Angebots in Winnenden ändern. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Noch empfängt die Backnanger Notfallpraxis am frühen Abend Patientinnen und Patienten, aber das soll sich nach der Erweiterung des Angebots in Winnenden ändern. Foto: Alexander Becher

Von Kai Wieland

Backnang. „Der ärztliche Bereitschaftsdienst im Rems-Murr-Kreis wird neu strukturiert“, heißt es auf der Website der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Baden-Württemberg – eine blumige Umschreibung für die Tatsache, dass den Plänen der KV zufolge zwei der bisherigen drei Notfallpraxen im Kreis aufgegeben werden sollen. Die bereits im Herbst geschlossene Notfallpraxis in Schorndorf wird demnach nicht wieder geöffnet. In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass darüber hinaus die Notfallpraxis in Backnang ihre Pforten schließen soll. Stattdessen wird die Praxis in Winnenden als zentraler Standort ausgebaut (wir berichteten).

Wer auf der Website der KV noch etwas weiterscrollt, stellt schnell fest, dass Backnang diesbezüglich kein Einzelschicksal ist. „Notfallpraxis Buchen wird nicht mehr geöffnet“, lautet die Überschrift darunter, gleichlautende Nachrichten findet man allein seit Februar zu Schopfheim, Bad Säckingen, Künzelsau, Möckmühl, Geislingen und Waghäusel-Kirrlach. Es handelt sich um ein strukturelles Phänomen, welches seitens der KV vor allem mit dem Fehlen niedergelassener Ärzte begründet wird.

Online-Petition gegen die Schließung

Die Entrüstung im Rems-Murr-Kreis und insbesondere im Raum Backnang ist ungeachtet dessen groß, nicht zuletzt weil damit zehn Jahre nach der Schließung des Backnanger Krankenhauses auch das „Trostpflaster“ wegfällt. „Damals wurde das Versprechen abgegeben, dass nach der Schließung des Krankenhauses eine Notfallpraxis in Backnang die Versorgung absichern würde“, erinnert sich der Grünen-Landtagsabgeordnete Ralf Nentwich. „Dieses Versprechen wird mit der Entscheidung der Kassenärztlichen Vereinigung konterkariert.“

Es droht damit ein Vertrauensverlust, nicht nur in die medizinische Versorgungssicherheit, sondern auch in die Politik. „Es ist ein sehr einseitiges Vorgehen der Kassenärztlichen Vereinigung und eine einseitige Aufkündigung, welche die Verlässlichkeit grundsätzlich infrage stellt“, kritisiert auch der Backnanger Oberbürgermeister Maximilian Friedrich die Entscheidung. „Und die Narbe ist in Backnang natürlich noch einmal tiefer.“ Tatsächlich reißt die KV mit der Ankündigung alte Wunden auf. „Anders als Winnenden und auch Schorndorf, wo es ja immerhin noch eine Klinik gibt, steht Backnang jetzt völlig blank da“, stellt Nentwich fest.

Es ist insofern nicht überraschend, dass sich auch in der Backnanger Bevölkerung Widerstand regt. Am Donnerstag vor Ostern wurde auf der Website change.org eine Online-Petition gegen die Schließung der Backnanger Notfallpraxis gestartet, die bis gestern Abend (Stand 19 Uhr) von fast 10000 Menschen unterzeichnet worden ist. „Mit meiner Petition möchte ich meinen Beitrag leisten, um die verantwortlichen Politiker und die Kassenärztliche Vereinigung dazu zu bewegen, ihre Entscheidungen bezüglich der Verkleinerung des Gesundheitssystems und der allgemeinen Kosteneinsparungen im Gesundheitssystem zu überdenken“, erklärt die Initiatorin Beatrice Weißbarth. Die 39-Jährige führt in Backnang seit 2022 ein Nagelstudio und sagt, die Petition aus einem Gefühl persönlicher Betroffenheit heraus gestartet zu haben. „Die Schließung der Notfallpraxis hätte katastrophale Auswirkungen auf die flächendeckende medizinische Grundversorgung.“

Maximilian Friedrich begrüßt die Initiative und rief seinerseits in den sozialen Netzwerken dazu auf, sich der Petition anzuschließen. Aber ist deren Zielsetzung angesichts des Ärztemangels, den die KV als Begründung für den Schritt anführt, überhaupt realistisch? Schließlich ist dieser auch im Rems-Murr-Kreis bei laut den Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung 40 offenen Arztsitzen offenkundig. Zudem hatte im vergangenen Oktober ein Urteil des Bundessozialgerichts die Lage zusätzlich verschärft (wir berichteten).

Kreisgröße spielt für die KV keine Rolle

„Ich verstehe durchaus die Problematik innerhalb der Ärzteschaft, auch in Backnang sind ja Arztsitze vakant“, sagt Maximilian Friedrich, erinnert aber zugleich an den Versorgungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigung. Den Ball sieht der Oberbürgermeister beim Landesgesundheitsminister Manfred Lucha. „Er muss die Frage beantworten, ob für einen großen Landkreis wie den Rems-Murr-Kreis mit 430000 Menschen eine einzige Notfallpraxis wirklich ausreichend ist. Ich kann es mir ehrlich gesagt nicht vorstellen.“

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In dasselbe Horn hatte zuvor schon Landrat Richard Sigel in einem Brief an die KV geblasen und daraufhin die Antwort erhalten: „Wir sehen die Frage der Zahl der Standorte unabhängig von der Bevölkerungszahl.“ Relevant seien vielmehr die Erreichbarkeit und die Ausgestaltung der Dienste vor Ort. „Langfristig möchten wir den Dienst in Winnenden konzentrieren und dort zwei Ärztinnen und Ärzte parallel einsetzen.“ Eine Vernachlässigung des Versorgungsauftrags kann man dort offenbar nicht erkennen. Auf die Nachfrage, ob Modellrechnungen vorliegen, wie sich die Belastung einer einzigen zentralen Notfallpraxis in Winnenden auswirken wird, antwortet eine Sprecherin: „Wir haben bei der Neustrukturierung die Sicherstellung der Regelversorgung stets im Blick. Die Schließung einer Notfallpraxis erfolgt erst nach intensiver Überprüfung der Situation vor Ort, insbesondere was die Erreichbarkeit durch die Patientinnen und Patienten betrifft. Die Versorgung der Bevölkerung außerhalb der Sprechstundenzeiten ist damit weiterhin gewährleistet, zumal der Fahrdienst, der die medizinisch notwendigen Hausbesuche beispielsweise für gehunfähige Patienten leistet, weitergeführt wird.“

Wann die Notfallpraxis in Backnang konkret geschlossen wird, ist noch offen. Zunächst sollen die Räumlichkeiten in Winnenden ausgebaut werden. „Die Bereitschaftspraxis in Winnenden wird zurzeit von der Klinik räumlich erweitert. Wann das abgeschlossen sein wird, darüber haben wir keine Informationen. Bis zum Abschluss dieser Erweiterungsmaßnahmen bleibt die Notfallpraxis in Backnang in Betrieb.“

Pragmatische Lösungen gesucht

Ein grundsätzliches Abrücken der KV von diesen Planungen ist nicht zu erwarten, denn der Trend verfestigt sich weit über den Rems-Murr-Kreis hinaus und die zugrunde liegende Argumentation ist nicht aus der Luft gegriffen. Ob sie mit ihrem Ansatz aber nicht über das Ziel hinausschießt, gilt es nun auch seitens der Politik zu klären. „Irgendeine Art von Priorisierung wird sicherlich notwendig sein, man muss einen Mittelweg finden. Der Ansatz der KV, einfach zwei Praxen komplett zu schließen, kann aber nicht die Lösung sein“, sagt Maximilian Friedrich, dessen Arbeit aktuell darin besteht, im Schulterschluss mit dem Landkreis und den anderen Kommunen auf die Politik und die KV einzuwirken. „Einen großen runden Tisch mit allen Beteiligten, insbesondere auch mit der niedergelassenen Ärzteschaft, würden wir uns natürlich sehr wünschen.“

Ein Kompromiss, der Ralf Nentwich umsetzbar erscheint, wäre der Weiterbetrieb zumindest der Backnanger Notfallpraxis, um das obere Murrtal nicht noch stärker abzuhängen. „Die Notfallpraxis in Backnang ist stark frequentiert und insofern notwendig“, betont er. „Es müssen pragmatische Lösungen gefunden werden, um sie zu besetzen.“

Auch auf der juristischen Ebene gibt es indessen Anknüpfungspunkte, vor allem im Hinblick auf die Folgen des Urteils des Bundessozialgerichts. So verweist Maximilian Friedrich auf den Ansatz, eine Ausnahmeregelung für die Sozialversicherungspflicht im ärztlichen Bereitschaftsdienst zu erarbeiten. Dafür finde sich im Sozialgesetzbuch im Hinblick auf den notärztlichen Dienst sogar schon ein Beispiel. Damit käme man wohl auch einem Kompromiss mit der Kassenärztlichen Vereinigung näher. „Wir benötigen die Rechtssicherheit im Sozialgesetzbuch bezüglich Ärzten im Rettungsdienst und die vollständige Finanzierung für diese zusätzlichen Strukturen außerhalb der Praxen“, appelliert die Sprecherin der KV an die Politik.

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Erstellt:
5. April 2024, 06:00 Uhr

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