Der stürmende Verteidiger

Leonidas Stergiou ist auf dem besten Weg, sich einen neuen Vertrag beim VfB zu erspielen – und einen Platz im Schweizer Nationalteam.

Von David Scheu

Stuttgart - Eigentlich sollte man ja meinen, dass der Überraschungsfaktor rund um den VfB Stuttgart inzwischen ein begrenzter ist. Nach fast einem Jahr auf der Erfolgswelle, mit sehr konstanten Auftritten zudem. Und doch: Zuletzt gab es wieder mal verwunderte Blicke, in erster Linie beim VfB selbst. Cheftrainer Sebastian Hoeneß berichtete von „ungläubigen Gesichtern“ beim 3:1 gegen den FC Bayern München – hervorgerufen von einem stürmenden Verteidiger: Leonidas Stergiou war einfach mal durchgelaufen, hatte den Ball an Nationaltorhüter Manuel Neuer vorbeigespitzelt und so sein erstes Tor für den VfB erzielt. Selbst in den Trainingsspielen sei er eigentlich nicht für Treffer en masse bekannt, so Hoeneß.

Dennoch passte das Tor auch ins Bild. Niemand im VfB-Kader hat zuletzt eine so steile Entwicklung genommen wie der 22-jährige Schweizer, der nach Monaten in der zweiten Reihe nun viermal in Folge in der Startelf stand. Seine Auftritte? Unaufgeregt und weitgehend fehlerfrei auf der äußeren Verteidigerposition, wahlweise in der Dreier- oder Viererkette. Dass es dabei unter anderem gegen die Schwergewichte Bayer Leverkusen und Bayern München ging, verleiht dem Ganzen zusätzlich Nachdruck.

„Es ist enorm, was der Junge in der Kürze der Zeit an Entwicklung genommen hat“, sagt Hoeneß, „er ist ein großartiger Charakter, der einen schwierigen Saisonstart hatte und sich das alles total erarbeitet hat.“ Stergiou selbst macht um seine anfängliche VfB-Reservistenrolle kein großes Aufsehen: „Bei so guten Spielern und bei dem Lauf, den wir hatten, habe ich es einfach professionell genommen. Ich habe an mir gearbeitet und konnte sehr viel lernen.“ Ein Lautsprecher ist er ohnehin nicht, im Gespräch höflich und zurückhaltend – und auch auf dem Feld durch wenig aus der Ruhe zu bringen.

Energieraubende Diskussionen mit Gegenspielern oder Schiedsrichtern im Minutentakt sind nicht Stergious Ding, er spult viel lieber sein Pensum ab. Beim VfB schätzen sie dabei vor allem das Tempo des Verteidigers. Oft vermeidet er so die Zweikämpfe schon im Vorhinein und antizipiert Situationen. Mit Folgen: In den vergangenen vier Jahren beim FC St. Gallen sah Stergiou insgesamt lediglich acht Gelbe Karten, und das als gesetzter Innenverteidiger. „Seine Stärken kannten wir natürlich, die besondere Schnelligkeit, die schnellen Schritte im Zweikampf“, sagt der Stuttgarter Sportdirektor Fabian Wohlgemuth, „das bringt er immer mehr auf die Platte.“

Das Timing für den Leistungsschub hätte nicht besser sein können. Stergiou ist nur noch bis Saisonende von St. Gallen an den VfB ausgeliehen – und bis vor wenigen Wochen war es mehr als fraglich, ob die Stuttgarter die Kaufoption über rund zwei Millionen Euro ziehen werden. Das hat sich geändert, die Weichen stehen auf Verbleib. „Die Tendenz geht dahin“, bestätigte auch Wohlgemuth zuletzt im SWR. Und von Spielerseite ist der Wunsch ohnehin klar. Ob er denn Lust habe, in Stuttgart zu bleiben? „Absolut“, sagt Stergiou, „gar keine Frage.“

Womöglich ist die gemeinsame Zukunft beim VfB gar nicht die einzige erfreuliche Begebenheit, die auf Stergiou in den kommenden Wochen zukommt. Mit seinen Leistungen hat er sich in den Fokus der Schweizer Nationalelf gespielt. Kapitän der U 21 der Eidgenossen ist er bereits, nun könnte bald der Sprung nach oben anstehen. Schon zur EM im Sommer? Die Möglichkeit besteht.

„Wir beobachten alle Schweizer Spieler, die gerade auf höchstem Niveau im Einsatz sind – also natürlich auch Leonidas“, sagt der Schweizer Nationaltrainer und frühere VfB-Profi Murat Yakin (50) unserer Redaktion. „Er ist durch seine vier Startelfeinsätze für den VfB zuletzt nochmals stärker in den Fokus gerückt.“

Was Yakin an Stergiou schätzt? „Seine Schnelligkeit macht ihn sehr interessant, dazu verteidigt er clever.“ Das seien zwei ganz wichtige Qualitäten für die äußere Position in der Dreierkette – ein System, mit dem die Schweiz zuletzt des Öfteren spielte. Garantien gibt es aber natürlich keine. „Wir sind da auch gut besetzt“, betont der Nationalcoach, der in der Defensive unter anderem auf Manuel Akanji (28) von Manchester City und Fabian Schär (32) von Newcastle United setzen kann. Zugleich geht es bei so einem Turnierkader ja immer auch um die nötige Breite – und dass die Uefa nun 26 statt 23 Spieler zulässt, hat Stergious Chancen sicher nicht gesenkt. „Wir behalten das weiter im Auge und beobachten ihn intensiv“, verspricht Yakin.

Viel Zeit für Eigenwerbung bleibt dabei nicht mehr, genau ein VfB-Spiel noch: an diesem Freitag (20.30 Uhr) beim FC Augsburg. In der Woche danach gibt Yakin am 17. Mai in Lausanne sein Aufgebot für das Turnier in Deutschland bekannt. Womöglich mit einer freudigen Überraschung für Leonidas Stergiou.

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Erstellt:
7. Mai 2024, 22:12 Uhr
Aktualisiert:
8. Mai 2024, 21:59 Uhr

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