Selbstbetrug – eine menschliche Eigenschaft

Deshalb lügen wir uns in die Tasche

Die meisten Menschen sind überzeugt, gut und verantwortlich zu handeln. Aber warum steht es dann so schlecht um so viele Dinge?

Darf man to go trinken, nur weil die Milch vegan ist?

© epd/Heike Lyding

Darf man to go trinken, nur weil die Milch vegan ist?

Von Adrienne Braun

Der Mensch ist gut. Würde man ihn fragen, ob ihm das Wohlergehen von Mensch und Tier am Herzen liegt, würde er im Brustton der Überzeugung sagen: Ja, aber sicher doch! Auch der Natur wollen die wenigsten mutwillig Böses tun, sondern halten es im Gegenteil für ihre Pflicht, in ihrem Sinne zu handeln.

Deshalb gaben drei Viertel der Befragten bei einer internationalen Studie 2019 völlig überzeugt an, dass sie die Umwelt nicht nur schützen, sondern sich viel umwelt- und klimafreundlicher verhalten als der Rest der Bevölkerung. Eine Zahl, die aufmerken lässt: 75 Prozent glauben, bessere Menschen zu sein als die anderen. Da kann etwas nicht stimmen.

Wir sind Meister im Selbstbetrug

Aber wer ist es dann eigentlich, der die drei Milliarden Einwegbecher benutzt, die nach wie vor pro Jahr in Deutschland verkauft werden, obwohl es reichlich umweltfreundliche Alternativen gäbe? Wem gehören die fünf Millionen SUVs im Land? Und warum wird nach wie vor sehr viel Billigfleisch aus Massentierhaltung verkauft?

Weil es die Natur so will. Anders gesagt: weil wir Menschen mit einer Gabe ausgestattet sind, die für uns gut ist, für die Umwelt allerdings nicht so sehr. Wir sind Meister im Selbstbetrug.

Hierbei kommt uns die große Bereitschaft zur Lüge zupass. Schon Immanuel Kant wusste, dass sie „der eigentliche faule Fleck der menschlichen Natur“ sei. Heutige Wissenschaftler haben nachgezählt und gehen davon aus, dass man bis zu 200-mal am Tag lügt – mal aus Höflichkeit, mal, um andere nicht zu kränken.

Der Mensch muss sich selbst belügen, sonst würde er sich nicht ertragen

Vor allem lügen wir aber, um unser Selbstwertgefühl zu schützen. Denn die Kluft zwischen dem, was wir wollen, und dem, was wir tun, ist enorm. Das kann man zum Beispiel beim Thema Rauchen sehen. Natürlich wollen die meisten Raucher sich und ihren Körper nicht vorsätzlich schädigen.

Da sie aber trotzdem immer wieder zur Zigarette greifen, führt das zu einem höchst unangenehmen Spannungszustand, der schwer auszuhalten ist. Um den loszuwerden, bedarf es einer Strategie.

Die effiziente und nachhaltigste Variante wäre, das Rauchen aufzugeben. Weil das nicht so einfach möglich ist, beruhigen sich Raucher mit dem Vorsatz, über kurz oder lang aufzuhören. Man kann die unangenehme Wahrheit, sich selbst zu schädigen, schönreden. Deshalb ist einer der beliebtesten Sätze unter Rauchern der, dass Helmut Schmidt doch auch 96 Jahre alt wurde.

Auch SUV-Fahrer werden dieses unangenehme Gefühl kennen, wenn die Runde auf ihren Wagen zu sprechen kommt, denn in der Regel werden sie dann an den Pranger gestellt. Ob es Hinweise auf die negative Energiebilanz der Fahrzeuge sind oder deren Flächenverbrauch in der Innenstadt, die Besitzer werden für die ökologischen Probleme der Zeit verantwortlich gemacht und damit der soziale Druck auf den Einzelnen erhöht.

Das Spannungsgefühl beruht damit weniger darauf, dass man sich – wie beim Rauchen – sich selbst gegenüber rechtfertigen muss, sondern weil unser Ansehen im Sozialverband, das für uns so wichtig ist, einen Kratzer bekommt.

Wer spürt, dass er falsch handelt, wird gern aggressiv oder irrational

Oftmals reagieren die Betroffenen aggressiv oder versuchen neue Argumente ins Feld zu führen – zum Beispiel Aspekte der Sicherheit. Dabei unterscheidet sich die Sicherheit eines SUV nicht von der anderer Standardmodelle, wie es beim Testzentrum Mobilität und aktive Fahrzeugsicherheit heißt. Dafür erhöht sich das Risiko für Fußgänger und Kleinwagen deutlich, wenn sie mit einem SUV kollidieren – und kaum gesagt, schon könnte es beim SUV-Fahrer zu einem Spannungsgefühl kommen, denn natürlich will man sich nicht offensichtlich egoistisch verhalten auf Kosten anderer.

Gut also für all jene, die auf ihrem Schuldenkonto keine negativen SUV-Punkte haben – und das unter Umständen direkt in einen Freibrief ummünzen, um anderes problematisches Handeln zu legitimieren. So gönnt sich der passionierte Zugfahrer eine Flugreise, während die Couchkartoffel die miserablen Arbeitsbedingungen bei Amazon hinnimmt.

Oder man sieht geflissentlich darüber hinweg, dass man Unmengen an Plastikmüll produziert – aber immerhin für vegane Produkte. Wo man hinschaut, wir alle lügen uns permanent in die eigene Tasche und wollen uns besser sehen, als wir sind.

Eine falsche Handlung wird mit einer guten begründet

Der Umweltexperte Rainer Grießhammer behauptet in seinem Buch „#Klimaretten“, dass der Selbstbetrug sogar „immer absurder“ werde. Eltern würden ihre Kinder mit dem SUV zur „Fridays for Future“-Demo bringen und im Urlaub Fernreisen unternehmen, ihren Lebensstil aber als nachhaltig bezeichnen.

Hier greift ein bemerkenswerter Selbstbetrug des Ichs: Eigene Taten werden höher bewertet, als sie in Wahrheit sind. Wer seinen Papiermüll trennt, hält das für so unglaublich umweltfreundlich, dass ihm andere Zuwiderhandlungen als lässliche Sünden erscheinen.

So ist es nur folgerichtig, dass angeblich immer mehr Menschen Angst vor der Klimakrise haben, aber alles tun, damit diese nicht abgewendet wird. Die Schere zwischen Selbstdarstellung und Handeln kann sehr weit aufgehen.

So behaupten links eingestellte Menschen in Umfragen häufiger als konservativ Denkende, dass sie umweltbewusst handeln würden, selbst wenn es gar nicht stimmt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: In ihrer Gruppe sind Umweltschutz und Klimakrise zentrale Themen. Deshalb versucht man das zu verkörpern, was als sozial erwünscht erachtet wird.

Ohne Gesetze und Verbote lassen sich Probleme nicht lösen

Es genügt auch schon, hin und wieder ein Bio-Produkt zu kaufen, um sich einzubilden, nachhaltig zu leben. Psychologen sprechen hierbei von Verfügbarkeitsheuristik. Wenn ein Sachverhalt zu schwierig ist oder einem Informationen fehlen, um ihn richtig einschätzen zu können, beginnt man nicht etwa, zu recherchieren, sondern die Fragestellung wird so angepasst, dass sie leichter zu beantworten ist.

Ein Phänomen, das man beim Einkaufen oft beobachten kann. Bei zahllosen ähnlichen Produkten ist es unmöglich, das faktisch beste Produkt mit einem optimalen Preis-Leistungs-Verhältnis zu kaufen.

Deshalb greifen wir in diesen Momenten häufig zu Markenprodukten, die uns in der Werbung schon mal ein positives Lebensgefühl vermittelt haben. Da man glaubt, dieses gute Gefühl mit zu kaufen, zahlt man sogar mehr dafür.

Dieses störende Spannungsgefühl

Der Selbstbetrug, mit dem wir uns vor unangenehmen Gefühlen schützen wollen, führt allzu oft dazu, dass dringend notwendige Maßnahmen nicht umgesetzt werden, allem besseren Wissen zum Trotz. Nicht nur das Individuum, auch Wirtschaft und Politik lügen sich gern in die eigene Tasche, wenn sie sich großmäulig auf freiwillige Selbstverpflichtungen einigen. Sie sind eine sehr effektive Strategie, um auf allen Seiten das störende Spannungsgefühl abzubauen, ansonsten aber bewirken sie herzlich wenig.

Um ernsthaft Dinge zum Besseren wenden zu wollen, geht es nicht ohne Ge- und Verbote, meint der Psychologe Gerhard Reese. Da sie nicht beliebt sind, plädiert er dafür, Freiheitsbeschränkungen positiver zu kommunizieren. Ob im großen Ganzen oder im kleinen, individuellen Handeln – letztlich lohnt es sich, das lästige Spannungsgefühl nicht durch Selbstbetrug zu zähmen.

Raucher können sich die Gefahren schönreden. Wenn sie aber den Schritt geschafft haben, aufzuhören, profitieren sie doppelt. Schließlich tut man nicht nur der Gesundheit etwas Gutes, sondern hat auch die lästigen Spannungsgefühle für immer los.

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Erstellt:
27. April 2024, 08:12 Uhr

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