Erinnerungen aus der Backnanger Kesselgasse

Der Stuttgarter Hans-Dieter Wohlfarth hat ein Buch über seine Kindheit und Jugend in Backnang geschrieben. In „Kesselgassenkinder“ verwebt er persönliche und teils intime Einblicke mit fundierten Betrachtungen der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in der Stadt.

In seiner Kindheit ist die Kesselgasse Hans-Dieter Wohlfarths Spielplatz. Das heutige Erscheinungsbild habe mit jenem von damals allerdings nicht mehr viel gemeinsam, sagt der im Stuttgarter Stadtteil Gablenberg lebende Anwalt und Autor. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

In seiner Kindheit ist die Kesselgasse Hans-Dieter Wohlfarths Spielplatz. Das heutige Erscheinungsbild habe mit jenem von damals allerdings nicht mehr viel gemeinsam, sagt der im Stuttgarter Stadtteil Gablenberg lebende Anwalt und Autor. Foto: Alexander Becher

Von Kai Wieland

Backnang. Angeblich geht ihr Name auf die Kupfer- und Kesselschmiede zurück, die einst bei Jahrmärkten in den miteinander verbundenen Gässlein zwischen Uhlandstraße, Schillerstraße und Grabenstraße ihre Stände aufschlugen: die Kesselgasse. Hier ist Hans-Dieter Wohlfarth aufgewachsen, wenngleich durch die Sanierung der Altstadt – oder deren „Zerstörung“, wie Wohlfarth es in seinem Buch bezeichnet – zwischen heute und damals nicht mehr allzu viele Ähnlichkeiten bestünden. „Die Kesselgasse gibt es ja eigentlich nicht mehr“, sagt der 75-jährige Fachanwalt für Arbeitsrecht, der im Stuttgarter Stadtteil Gablenberg lebt.

So ganz scheint ihn seine Backnanger Herkunft dennoch nicht losgelassen zu haben, auch wenn es ihn seit seiner Einberufung zur Bundeswehr 1967 nie zurückgezogen habe, wie er versichert. Der Ausgangspunkt für seine Arbeit am Buch „Kesselgassenkinder“, das im Dezember vergangenen Jahres im eigenen Verlag erschienen ist, war jedoch nicht zuletzt berufliches Interesse. „Angefangen habe ich eigentlich mit der Aufarbeitung der Spruchkammer vier, das hat mich einfach juristisch und politisch interessiert“, erklärt Wohlfarth. Jene Spruchkammer befasste sich zwischen 1946 und 1948 mit der Rolle von Backnangerinnen und Backnangern während der NS-Diktatur. „Ich war schon immer ein Linker und politisch äußerst interessiert“, erzählt Hans-Dieter Wohlfarth und ergänzt, dass dies in der Familie liege. Sein Onkel Eugen Wohlfarth war einer der führenden Köpfe der Backnanger Arbeiterbewegung und prägte unter anderem als kommissarischer Bürgermeister ab Dezember 1945, aber auch schon vor dem Krieg die Geschicke der Stadt mit. „Vor 1933 war Backnang eine Stadt der Kommunisten und der Arbeiterbewegung“, sagt Hans-Dieter Wohlfarth. „Ich wollte verstehen, wie diese Leute, also von SPD und KPD, die ja auch drangsaliert wurden, mit den Nazis weiter zusammenarbeiten konnten. Denn das Spannende war ja, dass jeder jeden gekannt hat.“

Große Geschichte und kleine Anekdoten

„Kesselgassenkinder“ erzählt unter anderem vom politischen und gesellschaftlichen Wirken bekannter, aber auch weniger bekannter Backnangerinnen und Backnanger während der NS- und Nachkriegszeit. Wohlfarth scheut sich dabei nicht vor klaren Worten. Zum Beispiel kritisiert er die Hofierung des langjährigen NSDAP-Mitglieds und Backnanger Bürgermeisters Albert Rienhardt, nicht nur seitens der Stadt selbst, welche ihm 1952 die Ehrenbürgerschaft verlieh, sondern auch durch Artikel in der damaligen Backnanger Kreiszeitung. „Die Zeit ist reif für eine Aufarbeitung. Die eine oder andere Stadt stellt sich ihrer Geschichte, selbst wenn es wehtut“, schreibt Wohlfahrt in seinem Buch.

Unzählige Stunden und Tage habe er mit der Auswertung der Spruchkammer, im Stadtarchiv und mit der Lektüre alter Ausgaben der Backnanger Kreiszeitung verbracht, erklärt Wohlfarth. Die Arbeit am Buch habe sich über drei bis vier Jahre erstreckt. Dennoch handelt es sich um keine nüchterne rein historische Aufarbeitung oder überhaupt um ein Fachbuch, sondern vielmehr um einen mit privaten und persönlichen Anekdoten gespickten Erzählband über das Aufwachsen in Backnang, die städtischen Einrichtungen und Strukturen und den Wandel der Stadt. „Ich wollte die Geschichte aus meiner Sicht deutlich machen, aber immer faktenbasiert.“

„Kesselgassenkinder“ ist im Dezember 2023 erschienen. Abbildung: Hansdieter-Wohlfarth-Verlag

„Kesselgassenkinder“ ist im Dezember 2023 erschienen. Abbildung: Hansdieter-Wohlfarth-Verlag

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Von einem Spiel der Damennationalmannschaft im Etzwiesenstadion 1963 über die Maikäferplagen der 50er-Jahre bis hin zur Ausstellung eines 20 Meter langen Bartenwals auf der Bleichwiese berichtet Wohlfarth über allerlei bemerkenswerte Augenblicke der Stadtgeschichte. Viele der Erzählungen sind äußerst persönlich, wenn nicht gar intim, etwa sein bis ins 14. Lebensjahr andauerndes Bettnässen oder das mitunter problematische Verhältnis zum Vater. Andere sind vielmehr kurios, zum Beispiel jene von einem Bauern aus Cottenweiler, der sich seine Waren mit der getragenen Unterwäsche von Wohlfarths Mutter bezahlen ließ. „Wenn man etwas schreibt, was den persönlichen Bereich betrifft, dann muss es wahr sein, sonst kommt man auch mit sich selbst in Schwierigkeiten“, sagt Hans-Dieter Wohlfarth. „Mir war es wichtig, auch deutlich zu machen, dass nicht immer alles eitel Sonnenschein war, sondern dass es eben auch diese Seiten gab. Ich kann heute sagen, dass ich ein erfolgreicher Anwalt bin, auch wirtschaftlich. Aber diese dunklen Flecken hat eben jeder, nur geben es die meisten nicht zu.“

Gesellschaftliche Prozesse im Kleinen

Das Aufkommen des Fernsehens mit der Ausstrahlung der ersten Länderspiele und des Straßenfegers „Das Halstuch“ (1962), die Impfungen gegen Pocken und Diphtherie, auch damals schon unter den Protesten von Impfgegnern, der Triumphzug der Beatmusik einschließlich der Gründung einer eigener Band, die deutsch-französische Freundschaft, in Backnang erlebbar durch die Jumelage mit Annonay – jede nur denkbare gesellschaftliche Entwicklung fand im Größeren oder Kleineren in Backnang ihren Widerhall, was Hans-Dieter Wohlfahrts Buch auf oftmals unterhaltsame, bisweilen aber auch nachdenkliche Weise aufgreift. „Das ist das Schöne an einer Stadt in der Größe von Backnang. Die ganzen gesellschaftlichen Prozesse sind noch übersichtlich, aber trotzdem sind alle Aspekte da.“

„Kesselkinder“ ist ein interessanter Spagat zwischen historischem Sachbuch und subjektivem Erzählen – der eine oder andere Zeitgenosse habe auch „eine Ohrfeige“ mitbekommen, räumt Wohlfarth lachend ein, durchaus gespannt auf die noch ausstehende Resonanz. Es ist ein wilder Mix aus Erinnerungen und Anekdoten, Historie und Stadtgeschichte, so bunt, wie es wohl nur das Leben selbst schreiben kann. Mancher Aspekt im detailliert auserzählten Familiengeflecht oder in den kindlichen und jugendlichen Erinnerungen erscheint je nach Interesse vielleicht verzichtbar, doch ist es letztlich gerade diese umfassende Betrachtung aller Facetten, die ein Stück Backnanger Stadtgeschichte bis in den letzten Winkel mit Leben füllt.

Kaufen Das Buch „Kesselgassenkinder“ (Hardcover, 372 Seiten) von Hans-Dieter Wohlfarth ist im Dezember vergangenen Jahres im eigenen Verlag erschienen und kostet 20 Euro. Es ist bei der Buchhandlung Kreutzmann in Backnang sowie im Online-Shop des Verlags (siehe Infotext) erhältlich.
Hansdieter-Wohlfahrt-Verlag

Hans-Dieter Wohlfarth Hans-Dieter Wohlfarth wurde 1948 in Backnang geboren und gründete nach dem Jurastudium in Heidelberg eine Anwaltskanzlei in Stuttgart. Er ist seit mittlerweile 47 Jahren in dem Beruf tätig und hat sich insbesondere als Fachanwalt für Arbeitsrecht einen Namen gemacht.

Verlag Im Jahr 2017 gründet Hans-Dieter Wohlfahrt den gleichnamigen Verlag, zunächst um juristische Literatur zu publizieren. Mehrere Bücher entstanden in Zusammenarbeit mit Sohn Raffael Wohlfarth.

Bücher Neben juristischen Titeln insbesondere zum Arbeitsrecht finden sich im Verlagsprogramm auch Fotobücher mit eigenen Fotografien sowie Raffael Wohlfarths Buch „Ash mischt unser Leben auf“, in welchem dieser von seinen Erlebnissen mit einem weißen Schweizer Schäferhund berichtet. Das Programm ist online unter www.edition-wohlfarth.net einzusehen.

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Erstellt:
4. April 2024, 09:00 Uhr

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