Kommunalwahl in Baden-Württemberg

Immer mehr Listen – sogar Punks drängen in die Politik

Die Kommunalwahlen boomen. In den großen Städten in Baden-Württemberg formieren sich immer mehr Einzelinteressen zu eigenen Listen: Frauen, Jugendliche, Kulturfreunde und sogar Anarchisten.

Mit Bier und klaren Aussagen strebt die Anarchistische Pogo-Partei von der Straße in den ehrwürdigen Freiburger Gemeinderatssaal.

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Mit Bier und klaren Aussagen strebt die Anarchistische Pogo-Partei von der Straße in den ehrwürdigen Freiburger Gemeinderatssaal.

Von Eberhard Wein

Sie fordern „Deutschland den Dummen“, die Abschaffung der Schulpflicht, vor allem aber die Flutung der Freiburger Bächle mit Bier: bei der Kommunalwahl am 9. Juni will in Freiburg auch die Anarchistische Pogo-Partei (APPD) antreten. Um dies zu verkünden, ist der Landesvorsitzende eigens von seinem Stammplatz in der Fußgängerzone zu einer Gemeinderatssitzung in den Freiburger Ratssaal gekommen. „Hier wird bald ein anderer Wind wehen“, sagt er in einem Livevideo und nimmt einen kräftigen Schluck aus der mitgebrachten Bierdose. Da muss selbst der im Rat bereits vertretene Stadtrat der Satirepartei „Die Partei“ schmunzeln.

Die von neuen Listen geforderte Sammlung von Unterstützungsunterschriften dürfte die APPD an den Rand ihrer Organisationsfähigkeit gebracht haben. Doch mit der Hilfe von Freibier hat es geklappt. Jetzt ist sie mit vier Kandidaten – allesamt mit der Berufsbezeichnung „arbeitssuchend“ – dabei und schraubt die Zahl der Listen in der südbadischen Großstadt auf 20. Es ist der landesweite Rekord. In Stuttgart treten in diesem Jahr „nur“ 18 Listen an. Vor fünf Jahren waren es dort 20 gewesen.

In Villingen-Schwenningen endet eine Ära

Mit dem Rückgang ist die Landeshauptstadt eine Ausnahme, wie eine Umfrage unserer Zeitung unter den größten Städten im Land ergeben hat. Die Kommunalwahl boomt. In Heidelberg stieg die Zahl der Listen von zwölf auf 15, in Pforzheim von 13 auf 18, in Ulm von 13 auf 16, in Heilbronn von neun auf zwölf, in Karlsruhe von zehn auf 15. Auch in Mittelstädten wie Baden-Baden, Konstanz oder Aalen gibt es neue Listen.

Einen Rückgang verzeichnen lediglich Ravensburg und Villingen-Schwenningen. In Ravensburg verteilen sich die Bewerber offenbar besser auf die bestehenden Listen, deshalb gibt es kaum weniger Kandidaten. In Villingen-Schwenningen verschwindet nach dem Tod des ehemaligen NPD-Landeschefs Jürgen Schützinger dessen Deutsche Liga für Volk und Heimat, die 35 Jahre Teil der dortigen Kommunalpolitik gewesen ist.

Auch die Letzte Generation hat Kandidaten

Im urbanen Milieu gebe es viele Gruppen mit Partikularinteressen, sagt der Freiburger Politikwissenschaftler Michael Wehner. Jugendliste, Frauenliste, Kulturliste: sie würden auch durch das spezielle Wahlsystem ermutigt. Weil es keine Fünf-Prozent-Hürde gibt, genügt für einen Sitz in einem 40-köpfigen Gemeinderat schon ein Stimmenanteil von zwei bis drei Prozent. Im Stuttgarter Gemeinderat mit 60 Sitzen liegt die Grenze sogar unter zwei Prozent.

In Tübingen und Ulm wird erstmals die Klimaliste antreten, der auch eine Nähe zur „Letzten Generation“ attestiert wird, bekannt durch ihre Straßenklebeaktionen. Die europafreundliche Volt-Partei kandidiert unter anderem in Karlsruhe und Freiburg. In Karlsruhe und Pforzheim schickt die auf Migranten zielende Gerechtigkeitspartei Listen ins Rennen. Gegründet wurde die Gruppierung vom ehemaligen CDU-Politiker Jürgen Todenhöfer, der immer wieder mit Verschwörungserzählungen in Verbindung gebracht wird.

Uwe Hück hört auf

Vor fünf Jahren hatte in Pforzheim die Bürgerbewegung des Ex-Porsche-Betriebsratschef Uwe Hück überregionale Aufmerksamkeit erregt. Der Gewerkschafter hat sein Interesse an der Kommunalpolitik verloren. Dafür tritt erstmals die Sarow-Liste an, benannt nach dem ehemaligen CDU-Stadtrat Andreas Sarow. Überregional bekannt wurde der Künstler, nachdem er eine denkmalgeschützte Villa, die er zuvor erworben hatte, schwarz angemalt hatte.

Auch die Coronapandemie zeitigt Nachwirkungen. Unter den Namen „Demokratie und Aufklärung“ beziehungsweise „Bündnis für kommunale Mitbestimmung“ haben sich in Karlsruhe und Konstanz Kandidaten aus dem Querdenkermilieu zusammengefunden. Auch der Liste „Spitz“ in Freiburg wird eine solche Nähe nachgesagt. Eine zunächst erwogene Zusammenarbeit der Coronaleugner mit der AfD war in Freiburg gescheitert. Beide Gruppierungen treten nun mit Rumpflisten an.

Im Rat gibt es dann wieder Koalitionen

Die AfD ist derweil in Ludwigsburg neu dabei, tritt dagegen in Waiblingen nicht mehr an. Dort wird es erstmals eine Liste von Bündnis 90/Grüne geben. Die Partei war dort bisher nicht direkt vertreten. Umweltfreunde haben in Waiblingen nun eine große Auswahl. Es kandidieren auch die bereits etablierte Alternative Liste, die Liste Grün, Natur und Tierfreunde sowie die Tierschutzpartei. Wer sich da nicht entscheiden kann: Panaschieren – die Verteilung der Stimmen auf unterschiedliche Listen – ist bei Kommunalwahlen erlaubt.

Dass die inflationäre Entwicklung bei den Listen die Arbeitsfähigkeit der Kommunalparlamente nachhaltig beeinträchtige, sei bisher nicht zu belegen, sagt der Politikwissenschaftler Wehner. In Freiburg schlossen sich die verschiedenen Splittergruppen recht pragmatisch zu größeren Fraktionen zusammen. So verband sich Ramon Kathrein von der Liste „Teilhabe und Inklusion“ mit den Kollegen von „Junges Freiburg“, „Urbanes Freiburg“ und der Satirepartei zur fünfköpfigen Jupi-Fraktion. „Bei den großen Themen waren wir uns meistens einig“, sagt Kathrein. „Und unsere unterschiedlichen Zugänge waren für die Fraktionsarbeit eigentlich sehr befruchtend.“

Mühsame Kandidatensuche

Wilde WahlWas die Bewerberlage in kleineren Städten und Gemeinden betrifft, gibt es bisher keinen zentralen Überblick. Die Kandidatensuche sei teilweise mühsam, aber meist erfolgreich gewesen, sagt der Renninger Bürgermeister Wolfgang Faißt, der Landesvorsitzender der Freien Wähler Vereinigungen ist. Dem Gemeindetag ist von keiner Gemeinde bekannt, in der überhaupt keine Listen aufgestellt wurden. In solchen Fällen muss eine „wilde Wahl“ stattfinden. Dann kann jeder Wahlberechtigte im Ort gewählt werden.

EinheitslisteFür den mittelbadischen Raum berichteten die Badischen Neuesten Nachrichten von einem Trend zu Einheitslisten, bei denen alle Bewerber auf einer einzigen Liste stehen. „Einen solchen Trend können wir für das Land nicht erkennen“, sagte ein Sprecher des Gemeindetags. Einheitslisten dürfen in Orten bis zu 5000 Einwohnern doppelt so viele Kandidaten wie Sitze beinhalten.

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Erstellt:
29. April 2024, 12:22 Uhr

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