Netanjahus gefährliche Illusion

Israels Armee verbucht taktische Siege, doch die Regierung ist unfähig zu strategischen Entscheidungen.

Von Eidos Import

Allen Warnungen zum Trotz scheint sie kurz bevorzustehen: eine israelische Offensive in der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen. Israels Armee hat 100 000 Menschen im Ostteil der Stadt zur Evakuierung aufgerufen. Geplant sei ein „begrenzter Einsatz“, heißt es. Doch eine Offensive allein in einem kleinen Teil der Stadt, die als letzte Hochburg der Hamas gilt, hätte für Israel kaum strategischen Wert. Auch die rechtsextremen Partner von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu würden sich damit schwerlich zufrieden geben: Sofern die Rafah-Offensive nicht bald komme, drohten zwei radikale Minister kürzlich, würden sie die Regierung sprengen.

Netanjahus schärfste Kritiker werfen ihm vor, sich von seinem notorischen Machtstreben leiten zu lassen. Doch in seinem Kriegskabinett sitzen auch moderate, kühle Köpfe wie der frühere Armeechef Benny Gantz. Und aus israelischer Sicht gibt es durchaus militärische Gründe für einen Einmarsch in Rafah. Nicht nur verschanzen sich dort die letzten intakten Bataillone der Hamas, womöglich auch ihr Anführer Yahya Sinwar, der Planer des Oktober-Massakers; nicht nur harren dort vermutlich israelische Geiseln aus. Unter der Stadt verbergen sich zudem die Lebenslinien der Hamas: die Tunnel, durch die die Terroristen militärisches Gerät aus Ägypten schmuggeln. Setzt Israel dem kein Ende, kann es eines seiner zentralen Kriegsziele – die Entmachtung der Hamas in Gaza – kaum erreichen.

Doch in der Stadt und ihrem Umkreis leben auch anderthalb Millionen Zivilisten, viele von ihnen Binnenflüchtlinge. Die internationalen Warnungen vor einer humanitären Katastrophe sind berechtigt. Israel muss einen Weg finden, eine solche zu vermeiden. Dazu gehört die Einrichtung sicherer Zonen und eine schnellere Abfertigung der Hilfskonvois – und kompromisslose Bemühungen zu deren Schutz. Fatale Fehler wie die Bombardierung der Central-Kitchen-Helfer im April dürfen nicht passieren.

Womöglich könnte eine Einigung mit der Hamas auf eine Feuerpause die Offensive noch stoppen. Doch die Chancen schienen zuletzt eher schlecht. Zwar akzeptierte die Hamas am Montagabend einen ägyptisch-katarischen Vorschlag für eine Waffenruhe, doch die Details blieben zunächst unklar und erste Signale aus Israel waren negativ. Einen dauerhaften Waffenstillstand, wie die Hamas ihn bislang forderte, lehnt Israel ab: Bliebe die Gruppe in Gaza an der Macht, hätte der Krieg zwar viel Zerstörung und unermessliches Leid gebracht, für Israel aber kaum strategischen Nutzen.

Sobald eine Rafah-Offensive beginne, verspricht Netanjahu, trennten Israel nur Wochen von einem „totalen Sieg“. Das ist illusorisch: Selbst wenn die Armee die Stadt unter ihre Kontrolle brächte, ist die Hamas nicht besiegt. Schon jetzt tauchen ihre Männer in Städten und Camps wieder auf, aus denen die Armee sich zurückgezogen hat. Trotz der Schläge, die die Hamas hat verkraften müssen, bleibt sie in Gaza der militärisch stärkste Akteur. Und ihre Gefallenen zu ersetzen, dürfte ihr nicht schwerfallen unter dem Eindruck des Krieges, der viele junge Männer weiter radikalisiert.

Israels Kernproblem: Während die Truppen taktische Siege verbuchen, ist die Regierung unfähig, strategische Entscheidungen zu treffen. Zu ihr gehören Parteien wie die rechtsextreme Jüdische Stärke, deren Anhänger von Wahnideen wie einer Wiederbesiedlung Gazas träumen. Mit ihnen sind Pläne für eine palästinensische Selbstverwaltung in Gaza nach dem Vorbild des Westjordanlands nicht zu machen. Doch ohne realistischen Plan für den „Tag danach“ lässt Israel nach jeder gewonnenen Schlacht, nach jedem Truppenabzug in Gaza ein Vakuum zurück – das die Hamas nur allzu gerne füllt.

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Erstellt:
6. Mai 2024, 22:08 Uhr
Aktualisiert:
7. Mai 2024, 21:53 Uhr

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