Partygänger, Abgestürzte und ein gebrochenes Bein

In Hauptbahnhof und Klett-Passage steigt die Zahl der Straftaten. Ein Freitagabend zwischen Feiernden und Menschen ohne Perspektive.

Die Polizei verstärkt ihre Präsenz in der Passage – und dient vielen Wegsuchenden als Ansprechpartner für Auskünfte.

© Lichtgut/Max Kovalenko

Die Polizei verstärkt ihre Präsenz in der Passage – und dient vielen Wegsuchenden als Ansprechpartner für Auskünfte.

Von Jürgen Bock

Stuttgart - Der akustische Angriff erfolgt unerwartet und lautstark. „Scheiß Saarbrücker Hurensöhne“, brüllt eine rund zehnköpfige Gruppe junger Männer, alle mit Koffer und in schwarzen T-Shirts. Einige Passanten bleiben irritiert stehen. Nach knapp einer Minute ist der skandierende Haufen vorbeigezogen, die Parolen verhallen in den Tiefen der Gänge. Was das sollte? Keiner weiß es, aber die meisten wundern sich nicht. Herzlich willkommen in der Stuttgarter Klett-Passage.

Es ist Freitagnachmittag, unter den Deckenlamellen wuseln die Menschen. Mehrere Hunderttausend Reisende sind hier und im angrenzenden Hauptbahnhof jeden Tag unterwegs. Fernzüge, S-Bahnen, Stadtbahnen, Geschäfte bringen die Massen zusammen, deren Wege sich hier kurz kreuzen – oder auch länger. Ein Sammelsurium an Lebensentwürfen, das zuletzt für Schlagzeilen gesorgt hat. Die Zahl der Straftaten steigt, viele Menschen fühlen sich in dieser lange vernachlässigten Unterwelt nicht mehr wohl.

„Die Kletti ist ein Dauerbrennpunkt“, sagt eine junge Polizeiführerin. Sie ist im Rahmen der Sicherheitskonzeption Stuttgart in Zivil unterwegs. Sie selbst bleibt im Hintergrund, klärt die Lage auf. Dazu kommen zahlreiche weitere Kräfte mit Uniform und ohne. Fünfmal am Tag schließen sich die Beteiligten zu gemeinsamen Streifen zusammen. Denn die Zuständigkeiten sind kompliziert. Im Hauptbahnhof und unten bei der S-Bahn ist die Bundespolizei zuständig, auf den Ebenen dazwischen die Landespolizei. Und dazu kommt noch der städtische Vollzugsdienst, auf den Uniformen kenntlich durch die Aufschrift „Polizeibehörde“.

An diesem Abend sind es sieben Frauen und Männer, die durch die Passage, den Hauptbahnhof und den Schlossgarten patrouillieren. Da kommen einige Kilometer zusammen. Und kaum haben sie sich vor dem Polizeiposten in der Klett-Passage getroffen, stellt ein junger Mann die Frage, die sie heute noch so oft hören werden: „Wo geht es zu den Zügen?“ Die Wege sind durch die Baustelle für Stuttgart 21 schwierig und lang. „Wir sind halt auch Auskunftsbüro“, sagt einer und lacht. Eine Gruppe Wasengänger in Lederhosen kommt dazu und will wissen, wo denn die S-Bahn zu finden sei.

An einem Abgang kauert eine verwahrloste Frau. Ihr Alter lässt sich kaum schätzen. „Brauchen Sie Hilfe?“, fragen die Beamten. „Mein Fuß tut weh, ich glaube, der ist gebrochen“, sagt sie. Sie sei schon im Krankenhaus gewesen, habe eine Schiene bekommen. Es werde schon gehen. „Sind Sie sicher, dass Sie keinen Arzt wollen?“, fragt ein Polizist. Den Einsatzkräften bleibt nichts anderes übrig, als gute Besserung zu wünschen.

Der Polizeiposten hat nur noch tagsüber geöffnet, an Sonn- und Feiertagen gar nicht. Ob es etwas ändern würde, wenn er auch nachts als Anlaufpunkt dienen könnte? „Schwer zu sagen, aber die Kollegen sind hier ja ohnehin immer unterwegs und präsent“, sagt ein Polizeisprecher. Und dennoch: Mitarbeiterin eines Kiosks sexuell belästigt, eine 23-Jährige am Durchgang zu den Gleisen sexuell belästigt, Ladendieb in einem Geschäft erwischt, aber dem Ladendetektiv entkommen – so lauten allein die Meldungen der vergangenen Tage. Die Sicherheitskräfte können nicht überall sein.

„Die Kletti ist eben, was sie ist“, sagt die Polizeiführerin, „ein hochfrequentierter Verkehrsknotenpunkt und Treffpunkt nicht nur fürs normale Publikum.“ Der Drogenhandel habe durch die hohe Präsenz der Polizei etwas abgenommen. Dafür seien Ordnungsstörungen ein großes Problem. „Wir haben hier das Sozialgeschädigtenmilieu: Alkoholiker, Wohnsitzlose, Lagerer.“ Das gehe einher mit Müll, Urinieren, Betteln, manchmal auch Diebstahl und Hausfriedensbruch. „Sachen, die man nicht haben möchte.“ Und die viele Reisende verunsichern.

Die Stadt verspricht Abhilfe. „Die Baustellensituation im Hauptbahnhof, im Bahnhofsumfeld und in der Klett-Passage stellt uns alle vor große Herausforderungen. Wir müssen in dieser Übergangssituation mit aller Entschiedenheit Fehlentwicklungen entgegentreten und für mehr Sicherheit, Sicherheitsgefühl und Sauberkeit sorgen“, sagt Oberbürgermeister Frank Nopper. Mehr Polizei steht auf dem Plan, mehr Reinigung, mehr Sozialarbeit.

Und eine ungewöhnliche Maßnahme. Bisher öffentliche Flächen werden zum Teil umgewidmet und den Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) zugeschlagen. Die sollen dort dann ihr Hausrecht besser durchsetzen und Störenfriede des Areals verweisen können. Am vergangenen Donnerstag ist das auch im „Amtsblatt“ der Stadt Stuttgart bekannt gegeben worden.

Eine Maßnahme, die nicht unumstritten ist. Die Gemeinderatsfraktion aus Linke, SÖS, Piraten und Tierschutzpartei etwa fordert in einem Antrag eine Belebung der Passage – und fürchtet die Vertreibung von sozial schwachen Menschen. Die CDU hingegen spricht von einer „No-go-Area“. Reisende erwarte dort ein Areal, „das in Sachen Sauberkeit stark zu wünschen lässt und durch zweifelhafte Personen ein Gefühl der Unsicherheit vermittelt“.

Ob Tom eine zweifelhafte Person ist, weiß er nicht so genau. „Ich tu hier nichts Verbotenes“, sagt er. Der Mann in den zerschlissenen Klamotten heißt eigentlich anders, „doch das spielt keine Rolle“. Er sitzt auf der Treppe, vor ihm steht eine Schnapsflasche. Über sich erzählen will er nicht viel, nur eines: „Hier drin ist es trocken und nicht so kalt.“ Mit den Drogenhändlern, die er fast täglich beobachte, wolle er nichts zu tun haben: „Die gehen mich nichts an.“ Die Menschen drücken sich an ihm vorbei. Den meisten scheint er gar nicht aufzufallen.

Inzwischen ist es später Abend. Viele kommen vom Frühlingsfest zurück. An manchen Stellen liegt Alkoholdunst in der Luft. „Europapokal, ohohohooo“, singen einige gut betankte Wasenbesucher in Lederhosen. Ein paar Passanten bleiben kurz stehen und schauen hin, doch den meisten – um diese Zeit sind ohnehin vorwiegend Jüngere zu sehen – ist der Gesangsauftritt egal. Alltag. Die Kletti ist eben, was sie ist.

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Erstellt:
5. Mai 2024, 22:06 Uhr
Aktualisiert:
6. Mai 2024, 22:04 Uhr

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