Hassrede im Netz

Studie: Der Hamas-Angriff hat die antisemitische Kommunikation verändert

Eine länderübergreifende Studie hat den Kommentarbereich von Mainstream-Medien auf Antisemitismus untersucht. Die Dunkelziffer sei riesig, so die Forscher.

Ein Forschungsteam hat 130 000 Leserkommentare von deutschen, französischen und britischen Medien auf Antisemitismus untersucht.

© picture alliance/dpa/Fabian Sommer

Ein Forschungsteam hat 130 000 Leserkommentare von deutschen, französischen und britischen Medien auf Antisemitismus untersucht.

Von Nina Förster

Spätestens seit dem Angriff der Hamas auf Israel im Oktober kann man im Internet eine neue Welle des Antisemitismus beobachten. Doch schon vorher war das Netz voll von antisemitischen Äußerungen. Zu finden sind sie auch in den Kommentarbereichen etablierter Medien, in denen Leserinnen und Leser ihre Meinung zu Artikeln posten können. Das zeigt eine Analyse unter Leitung des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin.

Ein Team aus 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat die Kommentarspalten von „Guardian“, „Le Monde“, „Zeit“ und weiteren führenden Medien in Großbritannien, Frankreich und Deutschland zwischen 2020 und 2024 untersucht. Dafür wurden 27 Fallstudien durchgeführt und 130 000 Leserkommentare analysiert. Die Studie konzentrierte sich auf bestimmte Ereignisse, zum Beispiel den Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 oder die Debatte um den Rapper Kanye West, dem antisemitische Einstellungen vorgeworfen werden.

Riesige Dunkelziffer an verdeckt antisemitischen Kommentaren

Die Projektbeteiligten stellten fest: Antisemitische Botschaften tauchen online auch in politisch gemäßigten Milieus auf – in 80 bis 85 Prozent der Fälle allerdings verdeckt. Studienleiter Matthias J. Becker spricht von impliziten Userkommentaren, „in Form von Anspielungen, Wortspielen und rhetorischen Fragen“. Ein Beispiel: Anstatt „Schindlers Liste“ wird der Film von Steven Spielberg über den Holocaust „Schwindlers Liste“ genannt. Weil diese Form der antisemitischen Kommunikation von gängigen, quantitativen Studien nicht erfasst wird, geht der Forscher von einer riesigen Dunkelziffer an verdeckten antisemitischen Kommentaren aus.

Eine neue Form antisemitischer Kommunikation konnte laut Studienergebnissen infolge des Angriffs der Hamas im Oktober beobachtet werden: Selbstpositionierungen, bei denen der Überfall begrüßt und verteidigt wurde, rückten plötzlich ins Zentrum der Debatte. Stereotypen und Analogien, die für israelbezogenen Antisemitismus normalerweise typisch sind, traten in den Hintergrund. Für das Forschungsteam stellt der 7. Oktober deshalb einen Wendepunkt in der antisemitischen Onlinekommunikation dar: Vorher wurden antisemitische Meinungen oft nur verdeckt geäußert – seit dem Angriff häufig ganz offen. Seit rund einem Jahr kommen laut Matthias J. Becker auch Deepfakes – mit KI erstellte oder veränderte Foto-, Video- oder Sprachaufzeichnungen – hinzu. Er ist sicher: „Wir kennen bisher nur die Spitze des Eisbergs.“

Diskurs von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägt

Die Forscher schreiben in ihrer Untersuchung, dass der Diskurs von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägt sei. Am stärksten verbreitet war der Antisemitismus im Untersuchungszeitraum in den Kommentarbereichen britischer Medien. Matthias J. Becker vermutet, dass das am fehlenden Bewusstsein vieler Briten für die Thematik liege: Im Gegensatz zu expliziten Äußerungen in Großbritannien sind die antisemitischen Kommentare in Deutschland aufgrund der Geschichte eher vage oder versteckt formuliert, so der Wissenschaftler. Einen Unterschied in der Kommunikation von Medium zu Medium konnte das Forschungsteam nicht feststellen.

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Erstellt:
18. April 2024, 17:58 Uhr

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