Sekten, Coaches und Co. in Baden-Württemberg

Was sind die bedenklichsten Psychogruppen im Land?

Scientology, Hillsong, Shincheonji: Manche Sekten und ähnliche Gruppierungen haben in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit bekommen. Doch die Mitgliederzahlen dieser großen Player stagnieren – die bedenklichen Entwicklungen finden anderswo statt.

Bewegungen wie Scientology, hier die Stuttgarter Zentrale, werden zunehmend abgelöst durch vereinzelte Coaches und Esoteriker.

© Lichtgut/Max Kovalenko

Bewegungen wie Scientology, hier die Stuttgarter Zentrale, werden zunehmend abgelöst durch vereinzelte Coaches und Esoteriker.

Von Florian Gann

Baden-Württemberg war immer schon ein gutes Pflaster für sogenannte Sekten und Psychogruppen. Uriella und ihre Sekte Fiat Lux gelangten hier einst zu einer gewissen Bekanntheit. Shincheonji, eine Sekte aus Südkorea, missionierte erfolgreich auf Stuttgarts Straßen. Scientology ist seit langem an einigen Standorten vertreten und wird seit mehr als 25 Jahren vom Landesverfassungsschutz beobachtet. Und auch die evangelikale Freikirche Hillsong, deren mitunter fragwürdige Praktiken etwa durch den Podcast „Toxic Church“ bekanntgeworden sind, hat seinen eingetragenen deutschen Hauptsitz in Konstanz.

Coaches sind die neuen Gurus

Aber richtig Bewegung am Markt der Weltanschauungen sei nicht bei diesen großen bekannten Namen, sondern bei kleinen Gruppen, sagt Sarah Pohl von Zebra, der Zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen in Baden-Württemberg. Vor allem der Bereich Coaching und Esoterik würde boomen, sagt Pohl. Und während manche Angebote in dem Bereich unbedenklich seien, hätten sich doch die Anfragen erhöht, sagt Pohl.

Die Angebote seien vielfältig, sagt Pohl: Coachings für bessere Geschäfte, erfolgreicheres Dating, für wahlweise mehr Männlichkeit oder Weiblichkeit oder einfach bessere Gesundheit. Häufige Muster dabei: Notlagen werden ausgenutzt; für viel Geld wird die Lösung eines Problems versprochen; Anbieter stellen psychische Abhängigkeit her, mit Sätzen wie: „Nur ich kann das Problem lösen. Wir müssen weiter daran arbeiten.“ Manchmal wird dazu geraten, den Kontakt zu Freunden und Familie abzubrechen. In anderen Worten: Einige Coaches und Esoteriker – manche nennen sich auch Heiler – agieren ähnlich wie die Gurus einer Sekte.

Wie weit das im extremsten Fall gehen kann, zeigt der Fall eines sogenannten Life-Coaches in Walldürn im Neckar-Odenwald-Kreis: Der 38-Jährige soll Frauen über sein Angebot in sein Haus gelockt, als Geisel genommen und vergewaltigt haben. Er steht derzeit vor Gericht, es gilt die Unschuldsvermutung.

Manche suchen einfach nur Halt

Oft würden diese Anbieter nur 20 bis 30 Anhänger um sich haben, Angebote würden ständig auftauchen und wieder verschwinden, sagt Pohl. „Wir werden oft gefragt, ob wir Listen mit Leuten führen, die als problematisch einzustufen sind. Aber das würde heutzutage gar keinen Sinn mehr machen, weil der Markt sich ständig ändert und wir zig Kleinstanbieter haben“, sagt Pohl.

Was sind die Gründe für diesen Boom? Zum einen würden Krisen – Corona, Krieg, Klima, Inflation – anfällig machen für bestimmte Angebote, sagt Pohl. Zum anderen gebe es eine Unterversorgung bei Psychotherapieplätzen, Menschen würden deswegen anderswo Halt suchen. Mirijam Wiedemann, die im Kultusministerium gefährliche weltanschauliche und religiöse Angebote beobachtet, sagt: Manche Menschen würden ein problematisches Weltbild mitunter bewusst in Kauf nehmen, weil die Gruppen etwas bieten, was man suche: Anerkennung.

Shincheonji und viele kleine religiöse Gruppen

Auch bei den Freikirchen finde eine Ausdifferenzierung statt, sagt Andreas Oelze, Weltanschauungsbeauftragter der Evangelischen Landeskirche Württemberg. Zu den großen, international vertretenen Gemeinschaften sagt er: Anfragen zu Hillsong seien eher die Ausnahme, aber Shincheonji produziere bei ihm regelmäßig Beratungsbedarf. Aber die allgemeine Tendenz sei, dass sich immer mehr kleine Gruppierungen bilden würden, die aber über soziale Medien durchaus große Reichweite generieren könnten.

Zwei solcher kleinen Gemeinschaften werden auch vom Landesverfassungsschutz beobachtet: Die „Baptistenkirche Zuverlässiges Wort“ in Pforzheim, die Homosexualität mit dem Tod bestrafen will, und die Evangelische Freikirche Riedlingen, die mit demokratiefeindlichen Aussagen aufgefallen ist. „Gerade im bibelfundamentalistischen Bereich ist in den letzten Jahren eine stärkere Politisierung zu beobachten, etwa rund um Fragen zu sexueller Vielfalt und zur Liberalisierung der Gesellschaft“, sagt Oelze.

Das Christentum wird für rechtsextremes Gedankengut eingespannt

Neben Versuchen, das Christentum für rechtsextremes Gedankengut einzuspannen, gäbe es auch religiös-völkische Weltanschauungsgemeinschaften, sagt Oelze. Etwa der „Bund für Gotterkenntnis (Ludendorff)“, den etwa der Journalist und Rechtsextremismus-Experte Timo Büchner als völkisch und antisemitisch einstuft. Die Gruppe hat einen Bauernhof in Kirchberg-Herboldshausen im Kreis Schwäbisch Hall, der unter anderem in der Vergangenheit für Veranstaltungen der extremen Rechten zur Verfügung gestellt wurde, wie Büchner dem SWR sagte. Die Gruppe wehrte sich später gegen den Begriff rechtsextrem.

Oelze ist es aber wichtig zu betonen, dass das Ausnahmen seien und das Gros der Freikirchen ehrenvolle Arbeit machen würde. „Und wir haben auch bei den Freikirchen welche, die sich deutlich liberalisieren“, sagt Oelze.

Eine Verschmelzung mit dem rechtsextremen Spektrum gebe es auch andernorts, sagt Sarah Pohl von Zebra. Bei der Anastasia-Bewegung, die auch Gründungen in Baden-Württemberg habe, vermische sich rechtsextremes Gedankengut und Esoterik. Viele esoterische Angebote würden sich wiederum bei Verschwörungserzählungen bedienen. Und bei Reichsbürgern käme manchmal alles zusammen. „Man ist vereint im Punkt des Dagegenseins“, sagt Pohl. Also: Gegen den Staat, gegen die Medien, für eine selbst zusammengebastelte Wahrheit.

Das Geld im Land lockt dubiose Anbieter

Aber warum ist gerade Baden-Württemberg so attraktiv für derartige Angebote? „Die Attraktivität eines stabilen Absatzmarkts und die finanziellen Möglichkeiten der Bevölkerung locken nicht nur religiös-weltanschauliche Anbieter, sondern begründen auch einen anhaltenden Import verschiedenster religiös-weltanschaulicher Konzepte nach Baden-Württemberg“, heißt es im Sektenbericht für das Land von 2019, einen aktuelleren gibt es noch nicht. Angebote tun sich also dort auf, wo man auch Geld verdienen kann. Laut Pohl ist das immer noch aktuell. Gerade im Esoterik-Bereich sei die Klientel in der Regel relativ hoch gebildet und mit gutem Einkommen. Und immer mehr ältere Menschen würden an problematische Angebote geraten.

„In der Mehrheit der Fälle melden sich Menschen zwischen 30 und 50 bei uns, die wegen ihrer Eltern anrufen und sagen: ‚Meine Eltern sind abgedriftet, sie haben sich radikalisiert, sie sind total irgendwelchen Personen Anbietern verfallen oder hängen ganz tief in Verschwörungsnarrativen drinnen’“, erzählt Pohl. „Wenn man sich etwa die Reichsbürgerbewegung anschaut, dann sind es Menschen, die sich erst mit 45 Jahren angefangen haben zu radikalisieren. Es gibt aber nur ganz wenige Beratungsangebote, die auf diese Altersgruppe abzielen. Da müsste dringend stärker überlegt werden, welche Ansätze geschaffen werden können, um diese Zielgruppe zu erreichen“, sagt Pohl.

Wie man problematische Angebote erkennt

InfoDie Beratungsstelle Zebra und das Kultusministerium haben gemeinsam Broschüren herausgegeben, die es erleichtern sollen, problematische Angebote zu erkennen.

BroschürenFür Coaches ist hier eine Checkliste zu finden – umso mehr Punkte zutreffen, umso problematischer das Angebot. In Bezug auf Sekten hilft diese Broschüre, Risikofaktoren zu erkennen.

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Erstellt:
28. März 2024, 09:14 Uhr
Aktualisiert:
28. März 2024, 10:03 Uhr

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