Wenn der Bus nur viermal täglich abfährt

Leben auf dem Land Wer sehr dörflich lebt, ist nicht selten auf ein Auto angewiesen. In manchen Weilern fährt nur alle paar Stunden ein Bus ab. Welche Rolle spielt der öffentliche Nahverkehr auf dem Land? Und wie wird sich das ÖPNV-Angebot im Rems-Murr-Kreis weiter entwickeln?

Der Busfahrplan im Spiegelberger Ortsteil Großhöchberg ist übersichtlich: Gerade einmal sieben Busse am Tag halten dort an. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Der Busfahrplan im Spiegelberger Ortsteil Großhöchberg ist übersichtlich: Gerade einmal sieben Busse am Tag halten dort an. Foto: A. Becher

Von Melanie Maier

Spiegelberg/Oppenweiler. Trotz Corona hat das vergangene Schuljahr für Sophia (15), Ronja (13) und Selma Keimer (8) mit einer großen Verbesserung angefangen: Weil der erste Bus aus ihrem Heimatdorf, dem Spiegelberger Ortsteil Großhöchberg, nun nicht mehr um 6.45 Uhr, sondern um 6.59 Uhr abfährt, können die Schwestern morgens fast eine Viertelstunde länger schlafen. Dazu kommt: Die Umsteigezeit auf die Murrbahn in Sulzbach an der Murr ist seit der Fahrplanänderung viel kürzer als vorher. „Jetzt können die drei direkt den Anschluss nehmen und müssen nicht mehr bei Dunkelheit und Kälte 20 Minuten am Bahnsteig warten“, freut sich Julia Keimer, die Mutter der drei Mädchen, die die freie Waldorfschule in Backnang besuchen.

Sophia Keimer fuhr schon als Erstklässlerin mit den „Öffis“ zur Schule. Inzwischen besucht sie die 10. Klasse. „Das klappt eigentlich relativ gut“, sagt sie. „Ab und zu hat mal ein Zug Verspätung, aber meistens komme ich pünktlich zum Schulbeginn in Backnang an.“ Dass sie knapp 40 Minuten unterwegs ist, mache ihr nichts aus, sagt sie. Sie nutze die Zeit, um sich mit Freunden zu unterhalten, Musik zu hören oder sich um ihre Schwester Selma zu kümmern.

Immerhin: Die Bushaltestelle ist quasi vor ihrer Haustür. „Das ist der Vorteil, wenn man in so einem kleinen Dorf wohnt“, sagt Julia Keimer und lacht. Den Nachteil kennt sie aber auch: Fast jedes Mal, wenn ein Kind irgendwohin muss – zu Freunden, in den Theaterworkshop oder ins Volleyball –, müssen sie oder ihr Mann Florian sie mit dem Auto zur Bushaltestelle nach Spiegelberg bringen, weil in Großhöchberg, wo weniger als 100 Leute wohnen, nur sieben Busse am Tag anhalten.

Das ist in den meisten Weilern so. In Eschenstruet zum Beispiel, der zu Sulzbach an der Murr gehört, sind es sogar nur vier Busse täglich – der letzte fährt um 15.30 Uhr ab. Zweimal muss man umsteigen, bis man in Backnang ankommt, insgesamt dauert die Fahrt eine Stunde und 36 Minuten. Wer später fahren möchte, hat noch die Möglichkeit, mit dem Ruftaxi nach Sulzbach zu fahren und in die Regionalbahn zu steigen – das wars dann aber auch.

„Es ist immer aufwendig“, sagt Julia Keimer. „Aber das war uns klar, als wir vor zehn Jahren hierhergezogen sind. Das ist einfach die Kehrseite der Medaille.“ Noch aufwendiger, als die Kinder zum Bus zu bringen, wäre es für sie und ihren Mann, jedes Mal bis nach Backnang, Murrhardt oder Sulzbach zu fahren. Das ist für die beiden auch gar nicht möglich, denn sie haben noch einen zweieinhalbjährigen Sohn. „Von daher nutzen wir die Öffis schon recht viel“, so die 41-Jährige. Alle drei Mädchen haben ein Abo beim Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS); aufgrund einer Landesregelung muss die Familie aber nur zwei Tickets bezahlen. Und für Strecken, auf denen es nachweislich keine passende Busverbindung gibt, können sie sich die Spritkosten erstatten lassen. „Das summiert sich schon, wenn man sich die Mühe macht, jedes Mal einen Antrag auszufüllen.“

Insgesamt haben im Rems-Murr-Kreis etwa 70000 Menschen ein Abo, Scool-Abo, Studiticket oder Jahresticket für die öffentlichen Verkehrsmittel, schätzt der VVS. Genau könne man das nicht sagen, weil die Abo-Center nur die Gesamtzahl der Abonnenten im VVS-Gebiet an die Zentrale vermitteln, nicht aber den Wohnort der Kunden. Eine Ausnahme stelle das Scool-Abo dar, sagt Sprecher Niklas Hetfleisch: „Hier haben wir 19000 Abonnenten – diese Zahl spiegelt die tatsächlichen Nutzer wider.“

Geht es nach der Landesregierung und dem Landkreis, sollen sich diese Zahlen noch erhöhen. Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann hat sich explizit dafür ausgesprochen, die Verkehrswende im ländlichen Raum weiter voranzutreiben. „Wir müssen schnell dafür sorgen, dass das öffentliche Mobilitätsangebot auf dem Land besser, vielfältiger und vor allem nachhaltiger wird“, sagte er im November bei der Veranstaltung „Verkehrswende im ländlichen Raum jetzt“, die das Ministerium für Verkehr gemeinsam mit dem Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz sowie der Akademie Ländlicher Raum ausgeführt hat. „Im ländlichen Raum“, erklärte Hermann, „liegt für mich der Fokus auf dem gezielten Ausbau des ÖPNV-Angebots durch ein gutes Netz an Regiobussen und ergänzenden, bedarfsorientierten On-Demand- und Sharing- Verkehrskonzepten.“

Ein attraktives ÖPNV-Angebot könne Haushalte, die derzeit noch über zwei oder drei Autos verfügen (im kleinstädtischen und dörflichen Raum sind das momentan bis zu 47 Prozent), dazu bewegen, ein oder mehrere Autos zugunsten von Bus und Bahn aufzugeben. Außerdem könne es ein wichtiger Entscheidungsgrund für dringend benötigte junge Fachkräfte sein, einen Job abseits der Ballungsräume anzunehmen.

Das Ziel der Landesregierung ist bis 2026 ein Stundentakt, bis 2030 ein Halbstundentakt im öffentlichen Personennahverkehr in allen Orten des Landes von 5 bis 24 Uhr, im Ballungsraum ein Viertelstundentakt. Im ländlichen Raum, so Winfried Hermann, seien für die Schließung der noch nachfragearmen Zeiten vor allem ergänzende Angebote wie flexible Ruftaxiangebote sinnvoll. Auch Carsharing soll künftig an mehr Orten genutzt werden können. Der Anbieter Stadtmobil zum Beispiel ist im Landkreis derzeit erst an neun Standorten vertreten – von denen der kleinste (Winterbach) rund 7600 Einwohner hat.

Für den Rems-Murr-Kreis wurden mit der dritten Fortschreibung des Nahverkehrsplans im Juli schon gezielte Verbesserungen beschlossen. Er sieht einen weiteren Ausbau des ÖPNV-Angebots vor – gerade im ländlichen Raum.

Die Umsetzung des erhöhten Standards soll allerdings erst ab dem Jahresfahrplan 2023/2024 erfolgen, denn der Zeitpunkt der Umsetzung ist an die Vergabefristen für Busverkehre geknüpft, die beachtet werden müssen. Konkret bedeutet das zum Beispiel für die Orte mit 400 bis 1000 Einwohnern, dass montags bis freitags tagsüber mindestens eine stündliche ÖPNV-Anbindung vorgesehen ist. Das Ziel ist es, von und zu jeder Zugabfahrt an den Bahnhöfen der Murrbahn einen Ab- beziehungsweise Zubringer anzubieten. Die geplanten Verbesserungen werden den Kreis rund 830000 Euro pro Jahr kosten. Er stehe hinter dem Ziel, die Fahrgastzahlen im ÖPNV bis 2030 zu verdoppeln, betont Landrat Richard Sigel. Ob die Veränderungen ausreichen werden, mehr Menschen dazu zu bringen, auf ihr Auto zu verzichten, wird sich herausstellen.

Der öffentliche Nahverkehr im Rems-Murr-Kreis

Takt Mehr als 4100 ÖPNV-Fahrten werden im Rems-Murr-Kreis pro Werktag umgesetzt. Das bedeutet: Alle 17 Sekunden startet zwischen 5 Uhr morgens und 1 Uhr nachts durchschnittlich eine ÖPNV-Fahrt im Kreisgebiet, alle 21 Sekunden beginnt im Schnitt ein Bus im Kreis seine Fahrt.

Bahnen Das ÖPNV-Netz ist durch den „klassischen“ Linienverkehr mit Bussen und Bahnen gekennzeichnet, die aufeinander abgestimmt sind. Als das „Rückgrat“ des Angebots bezeichnet das Landratsamt die beiden S-Bahn-Linien S2 und S3, die Regionalbahnlinien R2 (Aalen–Schorndorf–Stuttgart Hauptbahnhof), R3 (Schwäbisch Hall–Backnang –Stuttgart) und die Wieslauftalbahn R21. Sie haben die stärkste Fahrgastnachfrage. Seit Dezember 2012 hält auch die S4 in Backnang.

Busse 87 Buslinien verschiedener Anbieter fahren rund 850 Bushaltestellen im Kreis an. Ergänzend zum „klassischen“ Linienverkehr kommen flexiblere Bedienungsformen wie Ruftaxis für die Bedienung in schwachen Nachfragezeiten hinzu.

Klimaschutz Mit 37 Prozent ist der Verkehrssektor im Kreisgebiet der größte CO2-Emittent. Das geht aus dem Klimaschutzkonzept des Landratsamts hervor. Innerhalb des Verkehrssektors beträgt der CO2-Anteil des Pkw-Verkehrs rund 70 Prozent, wobei etwa 50 Prozent der Pkw-Wege fünf Kilometer oder kürzer sind.

Finanzierung Für sein ÖPNV-Angebot im Kreisgebiet steuert der Rems-Murr-Kreis derzeit jährlich mehr als 34,5 Millionen Euro bei. Es ist einer der größten Ausgabeposten des Kreises.

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Erstellt:
12. Februar 2022, 16:00 Uhr

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