S-Bahn fährt im Jammertal

Die Fahrgastzahlen sind weit entfernt von den Werten vor der Pandemie – und sind 2023 sogar gesunken. Dafür gibt es viele Gründe.

Nur mit einem verlässlichen Fahrplan lassen sich mehr Kunden gewinnen.

© Lichtgut/Leif Piechowski

Nur mit einem verlässlichen Fahrplan lassen sich mehr Kunden gewinnen.

Von Kai Holoch

Stuttgart - Man kann die Zahlen schönreden und, wie es Regionaldirektor Jürgen Wurmthaler tut, sagen, dass man angesichts der Umstände mit einem noch schlechteren Ergebnis hätte rechnen können. Man kann das nun präsentierte Zahlenwerk aber auch als schallende Ohrfeige deuten: Denn lediglich 101,5 Millionen Menschen haben im vergangenen Jahr die S-Bahnen in und um Stuttgart herum genutzt. Das sind rund eine Million Fahrgäste weniger als 2022. Wenn man freundlich ist und die im Schienenersatzverkehr nicht erfassten Fahrgäste hinzurechnet, stimmt Wurmthalers Aussage, dass die Zahlen stagnieren.

Das ursprüngliche Ziel aber war es, wieder zu den Erfolgszahlen von 2019 zurückzukehren. Damals nutzten fast 133 Millionen Menschen das  Netz der S-Bahn Stuttgart. Das nun im Verkehrsausschuss der Region vorgestellte Ergebnis bedeutet einen kräftigen Dämpfer für die ambitionierten Bemühungen, die Menschen auf die Schiene zu locken – besonders wenn man bedenkt, dass im Mai 2023 das Deutschlandticket eingeführt worden ist und sich ähnlicher Beliebtheit erfreut hat wie das 9-Euro-Ticket im Jahr zuvor – 2022.

Für die Entwicklung des S-Bahn-Verkehrs in der Region gibt es zahlreiche Gründe. Da war zum einen der Ausbau zum digitalen Knoten, der zu wochenlangen Sperrungen ganzer Streckenabschnitte vor allem zwischen Bad Cannstatt und Waiblingen geführt hat. Aber auch andere Abschnitte mussten im Hinblick auf das europaweite Pilotprojekt, das nach seiner Fertigstellung die Frequenz des S-Bahn-Verkehrs deutlich erhöhen soll, vorübergehend stillgelegt werden. Die Fahrgäste mussten auf den erwähnten Schienenersatzverkehr ausweichen.

Wegen der Vorarbeiten musste zudem die Stammstrecke, also fast der gesamte Innenstadtbereich des S-Bahn-Netzes, in den Sommerferien komplett gesperrt werden. Um die daraus resultierenden Probleme zu minimieren, hat man 2023 auf Ersatzbuslinien verzichtet und stattdessen einen Regional-Express-Zugpendelverkehr vom Hauptbahnhof über Vaihingen nach Böblingen eingerichtet, zusätzlich zu den Ersatzverkehrsbussen in der Innenstadt. Die Bilanz der Verantwortlichen fällt dabei durchaus positiv aus: „Mit diesen Maßnahmen konnte der Nahverkehr über den gesamten Sperrzeitraum stabil und weitgehend störungsfrei aufrechterhalten werden“, sagt Jürgen Wurmthaler.

Aber die Bauarbeiten sind nicht der einzige Grund, warum die Bahn von „schwierigen Rahmenbedingungen“ spricht. Ein weiteres Problem sei die Verfügbarkeit von Fahrzeugen gewesen. Auf mehreren Linien habe man deshalb über etliche Monate hinweg nur einen Halbstundentakt anbieten können. Die Fahrten der erst im September 2022 eingeweihten S 62 zwischen Weil der Stadt und Stuttgart-Zuffenhausen hätten sogar mehrfach ganz gestrichen werden müssen. Auch ein hoher Krankenstand bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie der Mangel an qualifiziertem Personal habe die Situation weiter verschärft.  Zudem habe der GDL-Streik im Dezember seine Spuren in der S-Bahn-Bilanz hinterlassen.

Nun könnte man vermuten, dass nicht nur die S-Bahn-Nutzung zurückgegangen ist, sondern dass es in Folge von Corona auch einen Einbruch bei der Gesamtmobilität in der Region gegeben haben könnte. Doch auch das dazu vorliegende Zahlenmaterial bietet wenig Erfreuliches aus Sicht der Förderer des öffentlichen Personennahverkehrs: Die Anzahl der Gesamtwege von mehr als zwei Kilometern in der Region ist 2023 nahezu identisch gewesen mit den Kilometerzahlen im Jahr 2019. Der Anteil der Wege, die dabei mit der S-Bahn Stuttgart zurückgelegt worden sind, ist hingegen deutlich gesunken – und zwar von 6,3 Prozent 2019 auf 5,1 Prozent im vergangenen Jahr. „Unter den derzeitigen Bedingungen ist es schwer, neue Fahrgäste zu gewinnen“, fasst Jürgen Wurmthaler die missliche Situation zusammen. Auch der SPD-Regionalrat Michael Makurath betont, „wie wichtig Zuverlässigkeit für die Akzeptanz der Fahrgäste ist. Wir müssen den Weg aus dem Jammertal finden. Das ist ein bitteres Ergebnis.“ Und Bernhard Maier (Freie Wähler), konstatiert: „Wir sind noch meilenweit von den Werten vor der Pandemie entfernt.“ Gabriele Heise (FDP) gab hingegen zu bedenken, dass zumindest ein Teil der Fahrgastverluste der durch die Corona-Pandemie beschleunigten gesellschaftlichen Entwicklung hin zum Homeoffice geschuldet sei.

Zumindest einen erfreulichen Nebeneffekt hat die Fahrgastentwicklung: Im vergangenen Jahr erreichte – zumindest unter normalen Bedingungen, es also keinen Baustellen oder unvorhergesehenen Störungen gab – selbst zur Spitzenstunde zwischen 7 und 8 Uhr keine S-Bahn eine Sitzplatzauslastung von mehr als 100 Prozent. Der am stärksten frequentierte Abschnitt mit 99,7 Prozent lag dabei zwischen dem Favoritepark und Ludwigsburg. Aber auch die Streckenabschnitte zwischen dem Hauptbahnhof und Bad Cannstatt sowie zwischen Untertürkheim und dem Neckarpark waren stark ausgelastet.

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Erstellt:
26. April 2024, 22:04 Uhr
Aktualisiert:
27. April 2024, 21:56 Uhr

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